„Das Zauberbäumchen“, - ein sudanesisches Märchen.


Sportlich hoch motiviert, - trotzdem kam alles ganz anders. – Mit Langsamkeit ans Ziel! Es ist immer das Gleiche, außergewöhnliches Erleben bringt aus uns die Mitteilung hervor.
ein Text von Bernd Arnold.

Sonntag, 16. Februar 2014. Entspannt liege ich im Sand am Ufer des Weißen Nils, zwei Autostunden südlich von Khartum, der Hauptstadt der islamischen Bundesrepublik Sudan. Den Fluss herauf weht ein angenehm erfrischender Wind. Einige Meter von mir entfernt im Schatten eines Baumes sitzen Heli (Helmut Gargitter), Andi (Andreas Gschleier) und George (Georg Fink), meine südtiroler Weggefährten aus Brixen. Ihre Stimmen höre ich nur von fern, kann dem Gespräch nicht folgen, in meiner Dösigkeit ziehen die Ereignisse der letzten Tage in mir vorüber. Morgen werde ich wieder in Hohnstein die Haustür öffnen, den täglichen Ablauf aufnehmen und doch wird es anders sein als zuvor, zumindest einige Zeit lang. Was war geschehen? Etwas Großartiges! In zwei Wochen und nur sechs Tagen davon kletternd, hatten wir das gesuchte Abenteuer gefunden, so dass uns die vergleichsweise kurze Zeit viel länger erschien, denn sie war ausgefüllt mit Entdeckungen und der Freude daran.

Der Autor: Bernd Arnold


Entdecken und „Erobern“ (ganz persönlich gemeint); wobei gibt es das heutzutage noch zu erleben? Einmal im Jahr leiste ich mir diesen Luxus, verlasse mein „Schneckenhaus“ und mache mich auf die Suche, wissend darum, dass es nur mit richtigen Weggefährten gelingen kann, erforderlich bereits mit der Idee, der Zielsuche. Mein Freund Heli, zwischen uns beiden besteht eine Wechselbeziehung, gab den Anstoß dazu. Bereits 1993 kam ihm ein Kalenderbild von den granitenen Taka-Bergen zu Gesicht. Sehr eindrücklich und anziehend für ihn, dennoch sollte es über zwanzig Jahre bis zur Verwirklichung dauern. Im vergangenen Jahr kompensierte sich unser Interesse. Dabei erfuhren wir, dass dort bereits sehr früh, 1941 von R.A. Hodgkin und 1983 von Tony Howard und Di Taylor, geklettert wurde. Es müsste sich dabei wohl um ein durchaus interessantes Ziel handeln. Wider besserem Wissens begannen wir unsere Projektierung, ohne Kenntnis der Felsqualität, bereits vom vorhandenen Bildmaterial aus. Natürlich sollte es etwas großartig „Geträumtes“ werden. Eine solch markante Linie bot sich dabei am rechtesten Gipfel, dem Aweital, geradezu an. Logistisch war, zumindest von unserer Seite, alles ganz klar und auf das Ziel waren wir fokussiert. Nur hatten wir die Rechnung ohne den Wirt, den Konsulaten der Republik Sudan gemacht, denn mit dem Visum ergaben sich unvorhergesehene Verzögerungen. Nach nochmaliger Anfrage lag es bei mir drei Tage vor dem Start im Postkasten. Meine Südtiroler Freunde harrten vergebens, so dass wir uns erst in Khartum mit einem Tag Verspätung zusammenfanden. Der nächste Tag, ein Freitag, also Sonntag im Sudan, arbeitsfrei auch für Behörden, die sich für weitere Reisegenehmigungen erforderlich machten. Letzten Endes Zeit für uns, sich in sudanesische Gegebenheiten hinein zu denken. Allerdings blieben dabei drei Tage fürs Klettern auf der Strecke.

Sonntag, 09. Februar. 09.00 Uhr vorm Tourismusministerium, - nach nur einer Stunde (!) halten wir alle unser „Travel and Photo Permit“ in mehrfacher Ausfertigung in den Händen. Der acht stündigen Autofahrt nach Kassala, auf asphaltierter Straße, immer in östlicher Richtung, stand nichts mehr im Wege. Im schönsten Licht der Abendsonne erreichen wir die mit 500.000 Einwohnern drittgrößte Stadt des Sudan, nur 30 km von der Grenze zu Eritrea entfernt. Die Granitberge dahinter, fast kitschig bei dieser Beleuchtung, sind dominanter als unsere Erwartungen. Osman, unser Fahrer kennt, am Nordrand der Stadt, ein bescheidenes Hotel im Grünen.

Montag, 10. Februar. Nach dem Morgenkaffee, den man hier stark mit Ingwer versetzt trinkt, kann es wirklich losgehen. Wir, alle vier, haben bereits „Schaum vor dem Mund“. Von den letzten ländlichen Behausungen der Ortschaft al Khatmiyya, dem ältesten Teil der Stadt, steigen wir übers Blockfeld hinauf zu unserem erklärten Ziel, dem rechten markanten Pfeiler. Die Linie (ca. 400 m) ist logisch. Verschneidung, Platten, steile Wand und danach eine lange Verschneidung zum Gipfel. Die vielen weißen Flecken, Rast- und Nistplätze der Geier stören erstmal noch nicht. Auch der Startplatz ist ideal, ein großer Grasflecken am Wandfuß. Andi und George, in der vergangenen Saison gelang ihnen in den Dolomiten eine außergewöhnliche Erstbegehung, gehört die erste Seillänge, der „Ankerwurf“ sozusagen. Die Einstiegsverschneidung ist schnell vorbei und am Ende der erste Bohrhaken gesetzt. Die folgende Platte ist mit dünnen Schuppen besetzt, welche unter Andis Sohlen zerbröseln und somit sein Vorwärtskommen verhindern. Die hier extrem auftretenden Temperaturunterschiede führen an der Felsoberfläche, vorrangig auf Sonnenseiten zu Spannungen, so dass dabei dünne Schuppen abgesprengt werden. Geduldig, aber vergebens, drücken wir Andi bei seinem Bemühen, auf diesem bröckeligen Geläuf Fuß zu fassen, die Daumen. Danach ist Heli dran, als Bergführer mit jeder Felsqualität vertraut. Er hebt zwar ab, hatte aber für die steilen Passagen weiter oben seine Bedenken. Schließlich wollen wir ja klettern und uns nicht technisch „hocharbeiten“. Ungeeignet für unser Vorhaben! Entsprechend dieser Erkenntnis verzichtete ich auf meinen Versuch und wir verabschieden uns enttäuscht vom lang gehegten „Wunschziel“. Dumm gelaufen, mit solchen Umständen hatten wir nicht gerechnet. Erstmal schlimm diese Erkenntnis. Jedoch links davon in der steilen schattigen Nordseite könnten sich noch Möglichkeiten ergeben. Fehlanzeige, zwar boten sich großartige Riss-Linien, aber allesamt von Geiern über Jahrtausende benutzt und somit eine Kloake, nicht einladend, also total ungeeignet zum Klettern. Der Tag ist noch jung und um uns herum gibt es Felsen im Überfluss. Da muss doch etwas Geeignetes zu finden sein. Während Andi und George sich an einem kurzen aber sauberen Riss in der linken Schattenwand betätigen und dabei, die ihnen nicht so geläufige Technik üben, mache ich mich mit Heli auf die Suche. Am Totil, dem Hauptberg in dieser Gruppe, glauben wir eine neue „Traumlinie“ gefunden zu haben. Eine Folge von drei deutlichen Rissen, der ich spontan den Namen „Dreierpasch“ (in Erinnerung einer großartigen Seillänge am Fitz Roy) gebe. Zwar verlieren sich die Risse zum Gipfel hin, möglicherweise ergibt sich dort oben, sozusagen vor Ort, eine Lösung. Also, die Ausrüstung zum Einstieg tragen und wieder hoffen auf das „Glück des Tüchtigen“. Eintauchen ins Volksgetümmel. Der abendliche Marktbesuch, mit seiner Anhäufung von Volksgruppen, macht uns die Stadt als Schmelztiegel verschiedenster Ethnien begreifbarer.


Dienstag, 11. Februar. Über Nacht hatte sich nichts geändert, immer noch sind wir hochmotiviert. Heli startet, lässt nichts anbrennen dabei, spielt seine ganze Routine aus. Er erreicht den ersten Riss und kämpft sich in anstrengender Körperriss-Technik 40 Meter hinauf. Standplatz und ich folge ihm. Während Andi und George sich den Riss „hocharbeiten“ beginne ich die Querung nach links zu einem ganz dünn einsetzenden, aber lang nach oben ziehenden Riss. Im zweiten Versuch, abgesichert durch einen Bohrhaken gelingt es mir den Riss-Anfang zu erreichen. Endlich komme ich in Fahrt, - aus Fingerriss wird Hand-, Faust- und Schulterriss. Wir sind alle beim Klettern und gewinnen an Höhe. Jedoch, da ist er wieder, der Gedanke, der uns erneut zweifeln lässt. Was wird oberhalb der Risse sein? Wieder eine Sackgasse? Nur drei Tage bleiben uns noch und ganz oben ankommen wollten wir eigentlich. Erstmal die Seillänge beenden und danach laut weiter denken. Klar, jeder hat beim Klettern sein „Spiel“, doch wir sind eine Gruppe, was von jedem Einfühlungsvermögen für den anderen voraussetzt. Das Gruppenerlebnis, einfach nur geklettert zu haben, ohne das Fühlen des „Oben-angekommen-zu-sein“, den freien Raum an diesem Ort zu genießen, wäre ein fataler Verlust. Ein handfester Grund auch hier abzubrechen und die Wahl der weiteren Ziele zu ändern. Eigentlich eine bereits überfällige Entscheidung, denn aus der Zeitnot geboren ergab sich, wider besserem Wissens, eine etwas „überhitzte“ und deshalb erwiesenermaßen falsche Herangehensweise. Das von uns so sehr erwartete Erlebnis ergibt sich nicht allein durch sportliche Motivation, vielmehr ist es erstmal die Langsamkeit des Ankommens im noch Neuen und Unbekannten. Alles schon gewusst, in der Euphorie unter den Teppich gekehrt und durch die Wirklichkeit des Erfahrens wieder ans Licht gebracht. Nur gut so, endlich haben wir unseren Platz gefunden. Ab morgen schwören wir dem rein Sportlichen ab und schenken dem „Ankommen“ Priorität.

Mittwoch, 12. Februar. 06.00 Uhr, noch früher als bisher aus den Federn. Heute geht’s nicht auf direktem Wege zu den Felsen. In weitem Bogen (mit einer Polizei-Kontrolle) umfahren wir das Massiv zur Ostseite, denn der alles überragende Totil-Gipfel, an seiner Schwachstelle, ist unser Ziel. Über Blockfelder und Kaminkletterei erreichen wir eine große Einschartung. Die sich ergebende Rechtsquerung führt zu einem Rinnensystem, welches uns zum Gipfel leitet. Das Besondere, gegen 13.30 Uhr stehen wir ganz oben, einem Platz mit Weitblick. Nur die kreisenden Geier sind noch über uns. Nach Norden die sich fortsetzende Felskette, dahinter das Mukram-Massiv. Im Osten, Richtung Eritrea, wüstenartige Fläche und am Horizont eine langgezogene Bergkette. Im Süden das jetzt ausgetrocknete Flussbett des Gash. Nach Westen, die Stadt direkt unter uns. Ihr Zentrum wird durch einen Damm gegen Hochwasser (Sommerregenzeit) geschützt. Die darüber hinausreichende und noch ständig wachsende Peripherie verschwimmt im Dunst der Mittagshitze. Und hintendran, noch eine Fleißaufgabe. Von der Scharte einsteigend, erreichen wir über eine Reibungsplatte in drei Seillängen den südlichen Gipfel. Grund genug darauf mit Bier anzustoßen. Auch wenn Bavaria draufsteht ist es holländischer Herkunft, alkoholfrei versteht sich und außerdem ein Zeugnis aktueller Verkehrsströme. Eiskalt und so ganz „ohne“, doch etwas unbekömmlich für mich.

Donnerstag, 13. Februar. Nach so viel Seelenbalsam rührt sich in uns wieder der sportliche Drang steileren Fels anzufassen. Der vergleichsweise kleine Turm, nördlich der Khatmiyya-Moschee, gibt uns Gelegenheit dazu. In dessen achtzig Meter hohen Schattenseite ergeben sich mit Riss, Platte und Verschneidung lohnende Routen, die uns den ganzen Tag über beschäftigten. So nahe überm Ort blieben wir nicht unentdeckt. Zuerst leistete uns eine Pavian-Familie mit ihren bewundernswerten Kletterfähigkeiten Gesellschaft. Nachmittags waren es Dorfkinder, deren Neugier erst durch Ausprobieren befriedigt werden konnte. Am Abend, wieder Zutrinken mit „Bavaria“, dabei ein zielsuchendes Gespräch zum morgigen Klettertag, unserem letzten. Eine kurze aber nette Geschichte leistete uns dabei Hilfestellung. Bei unserem Moscheebesuch hatten wir von einem kontaktfreudigen Wächter erfahren, dass der majestätische Turm hinter der Moschee (Taka) noch seiner Besteigung harre. …und, dass am Gipfel ein Bäumchen steht, dessen Äste vom Erstbesteiger verbrannt, im Feuer zu Gold würden. Klingt ganz brauchbar, dachte sich Andi, der vom Beruf Apfelbauer ist und für seinen Betrieb einen neuen, sehr teuren Traktor benötigt. So viel Bedürftigkeit erforderte kein weiteres Nachdenken. - Da müssen wir hoch!

Freitag, 14. Februar. Es ist 08.30 Uhr als wir bei der Moschee ankommen. 500 Meter über uns der Gipfel. Die rechte nach Süden ausgerichtete Seite erscheint uns am machbarsten, was uns ein ganztägiges Sonnenbad verspricht. In der Gratscharte binden wir uns ins Seil. Geneigte Platten und eine schwach ausgeprägte Verschneidung vermitteln den Einstieg. Weiter geht es zügig einer Rippe folgend auf einen markanten Pfeiler. Mit dem Gold wird es wohl doch nichts werden, denn hier steckt bereits ein Bohrhaken, älteres Modell (M8), offensichtlich aus den frühen 90iger Jahren. Ganz doof, - jetzt einfach umzukehren. Die folgende tiefe Verschneidung, eine Mischung aus Hand- und Körperriss, erweist sich als Schlüsselstelle. Im Schatten gelegen, deshalb angenehm zu klettern. Darüber noch zwei Seillängen über Platten. Der Steinmann am Gipfel, - Zeugnis unserer Vorgänger. … und tatsächlich, das Bäumchen ist vorhanden, alle Äste sind unversehrt. Offenbar war den Erstbesteigern dessen Zauber nicht bekannt, so dass er über alle Zeiten als schönes Märchen erhalten bleibt. Ganz schön, dass sich auch heute noch derartige Lösungen ergeben.

Fazit unserer Reise: Ausschließlich durch Langsamkeit gelangen wir zur Sinnhaftigkeit des Lebens.

Kassala Hauptstadt des gleichnamigen sudanesischen Bundesstaates Kassala (2012: 510.165 Einwohner). Sie liegt im Osten des Sudan, nahe der Grenze zu Eritrea, am Ufer des Flusses Gash in einer fruchtbaren Ebene (ca. 450 m ü.NN.). Die sich dahinter auftürmenden Granitberge erreichen eine Höhe von kapp 1.400 m. Das Felsmassiv im Norden heißt Mukram, die Bergkette im Süden hat von Norden nach Süden die Gipfel Taka, Totil und Aweital. Östlich hinter den Bergen beginnt eine flache Sandwüste, nördlich davon liegt die Nubische Wüste. Trotzdem zählt das Gebiet um Kassala zu den fruchtbarsten Landstrichen des Sudans. Die in den Sommermonaten auftretenden Überflutungen des Gash werden in Bewässerungskanäle geleitet und so für die Landwirtschaft genutzt. Es werden Sorghum, Sesam, Obst und Gemüse angebaut. In Richtung Gedaref gibt es große Flächen mit Baumwolle. Durch die fruchtbare Gegend angezogen, ergab sich eine hohe Zahl unterschiedlicher Ethnien. Dazu kamen im 20. Jahrhundert Emigranten benachbarter Länder und nach 1970 tausende äthiopische und schwarzafrikanische Flüchtlinge, die sich in meist provisorischen Siedlungen am Rande der Stadt niederließen. Erste Ortsgründung um 1820 (al- Saniyya), weiterer Ausbau um 1840 (al-Khatmiyya). Ein Pilgerziel bis heute, die nahe der Felsen gelegene Khatmiyya-Moschee. Trotz der Grenznähe zu Eritrea, zu dem der Sudan ein gespanntes Verhältnis hat, war Kassala wenig von Unruhen und Krieg betroffen. Erst 2000 brachen hier heftige Kämpfe zwischen der arabisch dominierten Regierungsarmee und der südsudanesischen SPLA aus. 2006 fand der Konflikt durch eine Vereinbarung mit den hiesigen Rebellengruppen ein vorläufiges Ende.